"Nach der Klassifikation des alten Haarspalters Goethe gibt es drei Sorten von Lesern: Der erste genießt, ohne zu analysieren. Der dritte analysiert, ohne zu genießen. Aber dazwischen gibt es denjenigen, der genießend analysiert und analysierend genießt, und der ist es, der das Kunstwerk im Grunde neu erschafft."
Goran Petrovićs "Liebeserklärung an das Lesen" (so der Klappentext) ist vielmehr als das noch ein Geständnis seiner Liebe für Leserinnen und Leser dieser Zwischenkategorie, fähig nicht nur der Analyse und des Konsums, sondern der Übersetzung von Schriftzeichen in neue Welten. Ein solcher Leser ist Adam Lozanić, am Rande der Armut lebender Slawistikstudent aus dem Belgrad des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der den sonderbaren Auftrag bekommt, ein bereits vor Jahrzehnten verlegtes Buch umzuschreiben. Das "Vermächtnis" eines, wie er bald herausfindet, bereits 1936 in der Donau ertrunkenen Anastas Branica.
Schnell wird deutlich, dass die Schaffung neuer Welten und das Eintauchen in ein literarisches Werk hier keineswegs nur metaphorisch gemeint sind - sondern ganz real stattfinden. Adam sieht sich bei der Lektüre des Buches in dessen Welt hineinversetzt, und erfährt dabei nicht nur die im gedruckten Wort beschriebenen Sinnesempfindungen, sondern auch die sich daraus ableitenden Zwischentöne und Folgeeindrücke. Er erlebt den Roman. Damit ist er nicht allein: Bald trifft er in Anastas Branicas "Vermächtnis" nicht nur seine Auftraggeber, sondern auch andere Mitleser/-innen. Da ist der unfreundliche Gärtner, dessen Absichten bis zum Ende unklar bleiben; eine Familie, verfolgt von einem sie überragenden Schatten; eine gehörlose Köchin und vor allem die alte Natalija Dimitrijević mit ihrer jungen Begleiterin Jelena, in die sich Adam bald verliebt.
Die besondere Rolle Natalijas und ihre Verbindung zum unglücklichen Autor Anastas Branica werden in einer zweiten Handlungs- und Zeitebene beschrieben. Auch er hat sich bei der Lektüre eines Buches verliebt - in eine bereits jemandem anderen versprochene Französin, die ihn bei der einmaligen Begegnung jenseits der Literatur, auf den realen Straßen Belgrads, nicht einmal erkennen vermag. So entspinnt sich ihre Liebe nur innerhalb der Briefe, die Anastas ihr schreibt, die sie zeitgleich lesen und vor allem erleben, und die später zu seinem "Vermächtnis" werden sollen. In ihnen beschreibt Anastas in allen Details eine prachtvolle Villa inmitten eines weitläufigen Gartens inmitten eines Tals, fernab sogar der bloßen Möglichkeit eines Rests der Welt - eine "Villa am Rande der Zeit". Ständig auf der Suche nach neuen Phrasen, Beschreibungen und Wörtern, die dieses erlebte Schreiben und Lesen einzigartig machen sollen, beschäftigt er Expert/-innen verschiedenster Gebiete aus der gesamten Welt. Sein geheimes Leben offenbart er dabei nur der jungen Natalija, die ihn in heimlicher Liebe unterstützt.
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Freitag, 18. März 2011
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